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== DivinelyDiverse ==
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Glaube. Hoffnung. Queerness.

Aber die Bibel sagt...

Ich bin im evangelikalen Umfeld einer Freikirche aufgewachsen. Ein grosser Teil meiner Kindheit und Jugend war von einem Glauben geprägt, bei dem ein wörtliches Verständnis der Bibel zentral ist und deren Unfehlbarkeit angenommen wird. In zentralen Fragen des Lebens und des Glaubens wird die Bibel nach Antworten befragt, und sagt die Bibel zu einem bestimmten Thema etwas, so hat das auch heute noch unverrückbare Gültigkeit.

Im Alter von ungefähr sechzehn Jahren ist mir bewusst geworden, dass dieses Bibelverständnis eine krasse Vereinfachung ist und dass die Bibel zu kaum einer Frage oder einem Thema wirklich eindeutige Aussagen macht. Argumente, die mit Bibelzitaten begründet werden, können meist durch ebenso mit Bibletexten begründete Gegenargumente in Frage gestellt werden. Oft werden einzelne Aussagen der Bibel auch einfach aus dem Kontext gerissen, um irgendetwas bestimmtes begründen zu können.

So wird etwa Leviticus 18, 22 herbeigezogen, um (heute!) Homosexualität zur Sünde zu erklären. Es heisst dort: Du sollst nicht mit einem Mann schlafen wie man mit einer Frau schläft. Das ist ein Gräuel." (Zürcher Bibel) Das ist eine klare und eindeutige Anweisung. Doch verboten wird hier nicht das, was wir heute unter Homosexualität verstehen, sondern zunächst einfach mal Analsex zwischen zwei Männern. Dieses Verbot eignet sich folglich nicht dazu, zu behaupten, Homosexualität als auf Konsens beruhende Partnerschaft zwischen Personen des gleichen Geschlechts sei mit dem christlichen Glauben nicht vereinbar. Im Weiteren wird aus dem Zusammenhang des Textes auch klar, dass dieser Bibelvers in unserem Kontext nicht einmal für ein allfälliges Verbot von Analverkehr geeignet wäre. Der Vers ist ein Teil des sogenannten Heiligkeitsgesetzes, einer Reihe von Verordnungen, die die Israeliten damals befolgen sollten, um ihre kultische Reinheit zu bewahren und sich so von den umliegenden Völkern abzugrenzen. Diese Abgrenzung war nötig, um die eigene Identität nicht allmählich zu verwässern und zu verlieren. Weder kultische Reinheit im damaligen Sinne noch die Angst vor Identitätsverlust sind Themen des heutigen christlichen Glaubens, insofern werden die Gebote aus dem Heiligkeitsgesetz heute zu Recht als nicht relevant eingestuft. Dass aus mehreren Kapiteln voller Gebote und Verbote jedoch einzig für dasjenige, das vermeintlich Homosexualität verbietet, in manchen Kreisen bis heute Gültigkeit beansprucht wird, ist absurd. Wenn schon, müssten alle Weisungen gleichermassen Gültigkeit bewahren - dann dürften wir unter anderem auch keine Kleider aus gemischten Stoffen tragen. Viel Spass!

Nach der Erkenntnis, dass die Bibel kaum einfache Antworten auf drängende Fragen liefert, brauchte ich noch mehrere Jahre, um meinen Kinderglauben vollständig abzulegen und wieder einen positiven Zugang zur Bibel zu finden, die ja doch immerhin das grundlegende Dokument des Christentums ist. Das Argument “Aber die Bibel sagt…” akzeptiere ich in Diskussionen heute nicht mehr. Dennoch tauche ich weiterhin sehr gerne in biblische Texte ein, analysiere sie, vergleiche, recherchiere die Hintergründe und lasse mich gerne auch von ihnen überraschen. Sie erzählen davon, wie Menschen lange vor uns gedacht, gelebt, geglaubt, geliebt haben, und sind insofern eine Quelle der Inspiration. Und das Spannende: Je unvoreingenommener und neugieriger ich an die Texte herangehe, umso grösser die Vielfalt, die es darin zu entdecken gibt. Diese Geschichten sind so vielfältig, so vielfarbig und teils so queer, dass ich in meinen nächsten Blogbeiträgen auf einige davon eingehen werde. Denn manche Geschichten enthalten Spuren von Geschlechtervarianz und Transidentitäten… stay tuned!