Prinzessin Joseph (Teil II)
Dies ist ein Fortsetzung des Beitrags Prinzessin Joseph. Ich empfehle, zuerst den ersten Teil zu lesen, um etwas mehr Kontext zu haben.
Anders als ursprünglich geplant, schreibe ich nun doch eine Fortsetzung des Beitrags zu Joseph. Die Geschichte gibt aus queerer Perspektive einfach zu viel her, als dass ich es beim ersten Beitrag belassen könnte.
Joseph ist also eine Person, die nicht recht in eine binäres Geschlechterschema, das nur männlich und weiblich kennt, passen will. Joseph hat ein weibliches Auftreten, was durch die Geschichte hindurch immer wieder betont wird und was dadurch am greifbarsten wird, dass das vielfarbige Kleid, das Joseph trägt, offenbar ein Prinzessinnenkleid ist.
Ein Aspekt, den ich im Zusammenhang mit Josephs fancy Kleid bisher nicht weiter ausgeleuchtet habe, ist, dass Joseph das Kleid vom Vater Jakob geschenkt bekommen hat. Ich frage mich, welcher Vater damals einem vermeintlichen Sohn einfach so ein Prinzessinnenkleid geschenkt hätte. Das war wohl eher unüblich, folglich muss da mehr dahinterstecken. Des Rätsels Lösung ist in der Erzählung von Jakobs Kindheit zu finden. In Genesis 25,27 wird uns erzählt, dass Jakob eine ruhige Person gewesen sei, die gerne bei den Zelten geblieben sei, während Jakobs älterer Zwillingsbruder Esau ein Jäger war, der viel und gerne draussen umherstreifte. Da die Zelte damals der Bereich der Frauen waren (vgl. Gen 18), wird hier ein augenfälliger Gegensatz geschaffen zwischen Esau, der die klassischen Erwartungen an einen Mann erfüllt, während die Männlichkeit Jakobs durch seine Beschreibung in Frage gestellt wird. Dass Esau als wie mit einem Fell behaarte Person beschrieben wird, während Jakob glatte Haut hatte, trägt zu diesem Kontrast noch bei. Jakob war also selber schon nicht der wirklich männliche Mann - wer weiss, ob er sich überhaupt als solcher verstand -, sondern bewegte sich im androgynen Bereich. Daher war die ausgeprägte Androgynität seines Kindes Joseph für ihn weder fremd noch ein Störfaktor, ja er unterstützte und förderte sie sogar. Das kabbalistische Schriftwerk Zohar weiss zudem zu erzählen, dass Jakob kein Auge von Joseph lassen konnte, weil Joseph ihn an seine vertorbene Lieblingsfrau Rachel, Josephs Mutter, erinnerte. Joseph soll ausgesehen haben wie Rachel: “Whenever Joseph would walk by Jacob, he would look at Joseph, and his (Jacob’s) soul would be restored, as if he was looking at the mother of Joseph, for the beauty of Joseph was similar to the beauty of Rachel.” (Zohar 216b, zitiert bei Ruttenberg). Josephs verschwinden ist für Jakob also gleich doppelt schmerzhaft: Einerseits verliert er sein Lieblingskind - seine anderen Kinder machen ihn ja glauben, Joseph sei tot -, und andererseits bedeutet Josephs vermuteter Tod für ihn gleichsam ein zweiter Abschied von seiner Lieblingsfrau Rachel.
Joseph ist jedoch alles andere als tot und landet auf dem ägyptischen Sklav*innenmarkt, wo Joseph von Potiphar, einem hohen Beamten am Hof des Pharao, gekauft wird. Der Talmud, der immer wieder nach der Erzählung zwischen den Zeilen fragt, weiss zu erzählen, dass Potiphar den Joseph für sich selber kauft, also zum Zweck homosexueller Handlungen. So weit kommt es jedoch nicht, denn Gott will offenbar nicht, dass Joseph zu Potiphars Spielzeug wird, und so tritt der Engel Gabriel auf den Plan, der Potiphar kurzerhand kastriert. Daraufhin besucht Gabriel den Potiphar noch einmal und verstümmelt seine Genitalien. Die Kommentatoren des Talmud leiten dies daraus ab, dass Potiphar später in der Geschichte plötzlich den weiblichen Namen Potiphera trägt. Eine Geschlechtstransition inklusive Namensänderung also. Nein, das ist keine woke Bibelexegese des 21. Jahrhunderts, sondern eine rabbinische Auslegung aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten (Sotah 13b).
Von der Auslegung wieder zurück zum biblischen Text: Dort scheint nun nämlich Potiphars Frau ein Problem zu haben. Die sexuelle Lust ihres Mannes ist durch die Kastration wohl dahin, ausserdem hat er keine nennenswerten Geschlechtsorgane mehr. An Sex ist da kaum mehr zu denken. Aber da ist ja noch Joseph im Haus. Und wie wir wissen, ist Joseph total sexy. Das entgeht Potiphars Frau natürlich nicht, und sie beginnt, Joseph täglich zu bedrängen, um Joseph ins Bett zu kriegen. Doch Joseph lehnt ganz bestimmt ab, bis sie so gekränkt ist, dass sie einen sexuellen Übergriff durch Joseph vortäuscht und Joseph so ins Gefängnis befördert.
Eine kleine Nebenbemerkung: Wie schon bei der Gewalt durch die Brüder wird Joseph auch jetzt wieder ein Kleidungsstück abgenommen, bevor Joseph in der Tiefe verschwindet - diesmal nicht in einem Brunnen, sondern in einem Gefängnis. Es ist, als würde Joseph durch die Wegnahme des Kleides jeweils ein Stück der eigenen Identität weggenommen oder abgesprochen, was dann zum ganz tiefen Fall führt.
Weshalb Joseph sich nicht auf die Avancen von Potiphars Frau einlässt, hat schon zu einigen Spekulationen über Josephs sexuelle Präferenzen geführt. Sicher, es gibt natürlich die edlen Motive wie Josephs Loyalität gegenüber Potiphar usw., doch sind biblische Charaktere üblicherweise nicht unbedingt bekannt dafür, sexuell besonders zurückhaltend zu sein, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Stand Joseph vielleicht einfach gar nicht so sehr auf Frauen? Wieder ist es unter anderem die Midrash, die in diese Richtung spekuliert, wenn sie davon erzählt, dass die Frauen in Ägypten regelrecht mit Schmuck nach Joseph geworfen hätten, um Josephs Aufmerksamkeit zu erhaschen, während Joseph sie keines Blickes gewürdigt habe (Bereshit Rabbbah 98:18). Nun, ob Joseph homosexuell war oder nicht, spielt eigentlich gar keine Rolle mehr, die Auszeichnung zur queersten Figur der Bibel hat Joseph in meinen Augen ohnehin schon verdient.
Nach einigen Jahren im Gefängnis gelingt Joseph wieder der Schritt zurück ins Leben, als der Pharao eine Person sucht, die seine seltsamen Träume deuten kann. Und da ist natürlich Joseph gefragt. Bevor Joseph vor den Pharao tritt, seine Träume deutet und schnell zu einer der wichtigsten Personen im ägyptischen Reich neben dem Pharao avanciert, nimmt Joseph sich Zeit, um sich zu rasieren und sich neu einzukleiden. Dass die Bibel dies ausdrücklich erwähnt, ist wohl mehr als nur eine kleine Ausschmückung der Geschichte, sondern hat wesentlich mit Josephs Geschlechtsidentität zu tun. Nach der Zeit der Entbehrungen im Gefängnis kann Joseph sich endlich wieder schön machen. Joseph wird wieder sich selber. Überhaupt denke ich, dass Joseph sich in Ägypten wohl gefühlt haben muss, war es dort doch gang und gäbe, dass sich Menschen aller Geschlechter schminkten, mit Kajal, Lidschatten und vielem mehr. War die Verschleppung nach Ägypten für Joseph letztlich vielleicht sogar eine Befreiung, weil Joseph fern der Heimat endlich so leben konnte, wie es der eigenen Identität entsprach?
Quellen
Rabbi Danya Ruttenberg: What’s This About Joseph’s Technicolor Dreamcoat?