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== DivinelyDiverse ==
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Glaube. Hoffnung. Queerness.

Prinzessin Joseph

So, endlich möchte ich hier mal den schon länger erwähnten Spuren von Geschlechtervarianz in der Bibel nachspüren. Solche Spuren gibt es an vielen Stellen, aber eine Geschichte hat in diesem Zusammenhang in den vergangenen ca. 10 Jahren besonders viel Aufmerksamkeit erfahren: Die Geschichte von Joseph im Buch Genesis (Gen 37 - 50).

Lange habe ich geglaubt, dass mir die Geschichte sehr vertraut sei, war sie doch in der Sonntagschule gefühlt ständig ein Thema und hatten wir zu Hause Bilderbücher, die die Erzählung vielfarbig illustrierten. Was aber weder Bilderbücher noch Sonntagsschule vermittelten: Die Geschichte enthält zahlreiche queere Aspekte. Erstmals damit konfrontiert wurde ich durch einen kurzen Post von Rabbi Danya Ruttenberg auf Social Media - das muss vor ca. sechs Jahren gewesen sein. Seither habe ich mit Interesse gelesen, welche spannenden Aspekte Ruttenberg und andere in der Geschichte freigelegt haben.

Nun, da ist zunächst einmal das Kleidungsstück, das Joseph vom Vater Jakob geschenkt bekommt und das in Josephs Brüdern so viel Neid hervorruft, dass sie einen regelrechten Hass auf Joseph entwickeln und Joseph umbringen wollen. Dass es schlicht und einfach bad parenting von Jakob ist, derart zu demonstrieren, dass er ein Lieblingskind hat und ihm die anderen viel weniger wert sind, lassen wir hier mal beiseite. Spannender ist die Frage, was denn das eigentlich für ein Kleidungsstück gewesen ist, das Joseph da geschenkt bekommen hat. Was hebräisch als ketonet passim bezeichnet wird, wird meist übersetzt als prächtiges Gewand oder farbiges Kleid , im Englischen oft als coat of many colors. Ob der von der Zürcher Bibel in übermässiger protestantischer Nüchternheit verwendete Begriff Ärmelrock genügt hätte, um in den Brüdern Mordgelüste zu wecken, wage ich zu bezweifeln - doch immerhin wird da eine Anmerkung mitgeliefert, die auf das Problem hinweist, dass die genaue Bedeutung des hebräischen Ausdrucks für das betreffende Kleidungsstück unklar sei.

In der Tat ist der Begriff ketonet passim schwierig zu übersetzen, da er in der Josefserzählung nicht weiter beschrieben wird und ausserhalb dieser Erzählung nur an einem einzigen anderen Ort in der hebräischen Bibel verwendet wird. Doch diese andere Stelle - darauf weisen Ruttenberg und andere hin - verrät mehr über dieses Kleidungsstück, als manche wahrhaben wollen. Es wird dort von Tamar, der Tochter des Königs David getragen: “Sie aber trug ein ketonet passim, denn mit solchen Übergewändern kleiden sich die Königstöchter, die Jungfrauen sind.” Was Joseph also vom Vater geschenkt bekommt, ist ein Prinzessinnenkleid. Und Joseph trägt es mit Stolz und Selbstbewusstsein.

War Joseph genderqueer, trans*, nonbinär, …? Ich bin zurückhaltend mit der rückwirkenden Zuschreibung solcher Begriffe - sie waren damals noch nicht bekannt. Klar ist jedoch, dass die Erzählung eine Person schildert, die zwar vom Namen und den dazugehörigen Pronomen und Verbformen männlich konnotiert ist, die aber als androgyn dargestellt wird. Und darauf weist nicht nur das Prinzessinnenkleid hin, das Joseph trägt.

Als Joseph ganz am Anfang von Genesis 37 vorgestellt wird, wird Josephs Alter mit 17 Jahren angegeben. Gleichzeitig wird Joseph aber als na’ar, als Junge bezeichnet. In einer Kultur, in der Menschen ab Beginn der Pubertät zu den Erwachsenen gehören, ist das widersprüchlich. Das ist auch den Kommentator(*innen?) der Mishnah aufgefallen. Den Grund für den Widerspruch sahen sie darin, dass Joseph sich trotz des Alters wie ein Junge verhalten habe, “[…] pencilling his eyes, lifting his heels, and curling his hair.” (Bereshit Rabbah 84:7)
Wenn man den Ausführungen des Historikers und Experten für Jewish Studies Gregg Drinkwater folgt, ist der Befund, Joseph habe Makeup aufgetragen, sich die Haare gemacht und sich überhaupt feminin präsentiert, schlüssig. Drinkwater merkt dazu an, dass in den damaligen Kulturen die Trennlinie zwischen einem Jungen (im Gegensatz zu einem Mann) und einer Frau viel verwischter und durchlässiger waren als sie es heute sind. Die Bezeichnung von Joseph als einem Jungen diene in der Geschichte also bewusst der Feminisierung von Joseph.

Während der weiteren Erzählung ist Josephs ausserordentliche Erscheinung ein bleibendes Thema “Joseph aber war von schöner Gestalt und von schöner Erscheinung.” Wieder ist es Ruttenberg, die darauf hinweist, dass die hebräischen Begriffe hinter dieser Beschreibung in der Bibel ansonsten nur für Frauen verwendet werden und Joseph dadurch in einen Zusammenhang stellen mit Frauen wie Abigail, Esther oder Rachel, die allesamt ebenfalls einen wohlgeformten Körper hatten bzw. als “hot” beschrieben werden: “Anyway, Joseph is pretty AF, and, like Rachel and the others here, has a hot bod. And, notably, he is the only even remotely male-coded character in the Bible to be described in these terms.”

Joseph wird als eine durch und durch androgyne Gestalt beschrieben, eine Person, die sich deutlich von den Brüdern unterscheidet. Dass die Brüder Mordpläne gegen Joseph schmieden, die dann letztlich zu Josephs Verkauf an Sklavenhändler führen, wird sich also kaum nur mit der Vorzugsbehandlung durch den Vater oder den Träumen, in denen Joseph sich über die Brüder erhebt, begründen lassen, sondern ganz wesentlich auch mit Josephs Anderssein. Joseph ist nichts weniger als ein störender Fremdkörper in der Vorstellungswelt der Brüder, der nicht in ihr Weltbild passt. Und was es nicht geben darf, soll es auch nicht geben. So nimmt das Drama seinen Lauf.

Dass sich viele queere Menschen aus Judentum und Christentum heute von der Josephsgeschichte angesprochen bzw. ernstgenommen fühlen, ist verständlich. Für genderqueere, nonbinäre und trans* Personen kann Joseph eine Identifikationsfigur sein - ausserdem ist Joseph ein gutes Beispiel dafür, dass Geschlechtsidentitäten jenseits der Binarität keine Erfindung der vergangenen Jahre oder Jahrzehnte sind, sondern schon immer existiert haben. Der Hauptaspekt der Identifikation mit der Geschichte liegt aber wohl in der Erfahrung von Hass und Verstossenwerden, die Joseph macht - eine Erfahrung, die vielen queeren Menschen schmerzhaft vertraut ist. Doch die Geschichte geht weiter. Sie erzählt, wie Joseph nach dem Verstossenwerden weder zurückfindet ins Leben. Durch Höhen und Tiefen führt die Geschichte am Ende sogar zu einer Versöhnung mit den Brüdern. Es ist eine Geschichte queerer Hoffnung.

Quellen:

Rabbi Danya Ruttenberg: (Gender)queering Joseph. Midrashic Possibilities for the Torah’s Most Extra Child

Rabbi Danya Ruttenberg: What’s This About Joseph’s Technicolor Dreamcoat?

Gregg Drinkwater: Josephs’s Fabulous Technicolor Dreamcoat. in: Torah Queeries. Weekly Commentaries on the Hebrew Bible. New York Univiersity Press, 2009.

Mishnah: Bereshit Rabbah 84:7